Harald A. Summa + Eine historische Aufgabe

Eine historische Aufgabe: Vertrauen, Souveränität, Toleranz

Haben Kabel eine Identität? Sind Stecker politisch? Kann digitale Infrastruktur eine Geschichte erzählen und wenn ja, warum sollte sie das? Um diese Fragen soll es in diesem Beitrag gehen und um es vorwegzunehmen, natürlich haben Kabel keine Identität und sind Stecker nicht politisch. Wie sollten sie auch? Kabel und Stecker sind Werkzeuge. Sie dienen demjenigen, der sie zu nutzen weiß und erfüllen an genau der Stelle genau den Zweck, für den sie geschaffen wurden. Welcher Zweck das sein mag, spielt für ihr Funktionieren keine Rolle.

Auch das Internet, das neben einem Haufen Steckern und Kabeln aus einer Menge weiterer Technik und Code besteht, erfüllt nur genau den Zweck, für den es geschaffen wurde. Ebenso verhält es sich mit Gaia-X. Nichts weiter als Werkzeug, eine Plattform, um Daten zu tauschen. Klingt gut, können wir gerne probieren. Aber wirklich wichtig, wichtig im Sinne von elementar wichtig oder gar entscheidend für unser Überleben? Das ist so ein Haufen Kabel und Stecker nun wirklich nicht. 

Als Gaia-X startete, ins Leben gerufen von Deutschen und Franzosen, stellten sich die Macher die Fragen, die jedem Anfang innewohnen. Braucht es das wirklich? Gibt es das nicht schon? Und wenn es das schon gibt, was macht unser Ding besser? Wichtige Fragen, die ehrlich beantworten muss, wer Erfolg haben will. Teile der ehrlichen Antwort kamen nicht überall gut an. 

Wer mitmachen will, muss die Regeln akzeptieren

Denn nicht nur sollte Gaia-X eine ausreichend dimensionierte Basis bieten, mit der Partner untereinander Daten schnell, unkompliziert und sicher miteinander tauschen und gemeinsam neue Geschäftsmodelle entwickeln können. Gaia-X sollte als europäisches Projekt auch europäische Werte vertreten. Für diejenigen, die nicht gleich parat hatten, was „europäische Werte“ sind, wurde es ausbuchstabiert. Es geht um Begriffe wie Vertrauen, Souveränität und Transparenz. Wer bei Gaia-X mitmachen will, und das darf im Prinzip jeder, sollte damit einverstanden sein, sich an diesen Begriffen zu orientieren.

Gestartet wurde Gaia-X 2019 und auch wenn ich nicht behaupten würde, dass damals mit der Welt alles in Ordnung war, so hat sich doch seither einiges verändert. Damals war Europa noch kein Kriegsschauplatz. Heute ist es das. Und im Jahr 2022 ist das Internet eine so genannte Querschnittstechnologie, was nicht weniger bedeutet, als dass ohne das Internet eigentlich nichts funktioniert und das Internet umgekehrt irgendwie auch alles Mögliche unterstützt. Auch Krieg. Der digitale Raum ist selbst zur Kampfzone geworden. Dass es hier „nur“ um Daten geht, macht die Sache nicht weniger brisant. Gewalt in der Kohlenstoffwelt nimmt ihren Ursprung oft in der digitalen Welt und umgekehrt.

Was in guten Zeiten mühsam ist, hat in schlechten Zeiten auch sein Gutes

Das Internet ist, wie jeder weiß, der sich beispielsweise schon einmal angeschaut hat, was die ICANN eigentlich macht, ein recht komplexer Haufen Kabel und Stecker. Hier den Durchblick zu haben und Fortschritte zu erzielen, ist mühsam. In guten Zeiten wünschen sich viele der Verantwortlichen einen etwas einfacher zu verwaltenden Haufen. Etwas, das von Anfang an für die Zwecke designt wurde, für die wir es jetzt nutzen und nicht einfach so gewachsen ist. 

In schlechten Zeiten zeigt sich, dass das Chaos auch sein Gutes hat: Es ist sehr schwierig für einzelne Akteure, das Internet zu kontrollieren und beispielsweise gezielt einzelne Datenströme versiegen zu lassen. Mein eco Kollege Klaus Landefeld hat kürzlich bei Spiegel Online seine Einschätzung formuliert: „Das russische Netz ist viel weniger zentralisiert als das in China, es gibt mehrere internationale vernetzte Drehkreuze und Übergänge an das internationale Kabelnetz“, so Landefeld. Außerdem müssten die russischen Behörden weitere Spezialtechnik an wichtigen Stellen des Netzwerkverkehrs installieren, um das Netz noch hermetischer zu sperren. „Eine entsprechende Umrüstung würde mindestens ein halbes Jahr bis Jahr dauern.“

Welches System macht den Menschen das beste Angebot?

Doch auch wenn es schwierig ist, das Internet national so zu kontrollieren, dass Transparenz und Vertrauen eingeschränkt werden, bleibt für totalitäre Staaten ein verlockendes Ziel. Damit komme ich zurück zu den anfangs gestellten Fragen. Haben Kabel eine Identität? Sind Stecker politisch? Beides sind sie noch immer nicht. Aber wie wir sie nutzen, wer sie kontrolliert, wer mitmachen darf und wer nicht und welche Geschichten wir mit ihnen erzählen: Das sind Fragen, die heute wichtiger sind denn je. 

Der Kalte Krieg wurde nicht mit Waffen entschieden. Er wurde mit Geld entschieden und er wurde dadurch entschieden, welche Seite die bessere Geschichte erzählen konnte. Er wurde dadurch entschieden, welches System, welche Philosophie den Menschen das bessere Angebot zu leben machen konnte. 

In den Jahren seit dem Mauerfall profitierte Europa enorm davon, auf der sonnigen Seite der Geschichte gelandet zu sein – so sehr, dass viele Menschen vergessen zu haben scheinen, auf welcher Grundlage, auf welchen Werten ihr Erfolg, ihr Wohlstand und ihr im historischen Vergleich einzigartig bequemes Leben fußte. Wenn wir heute wirtschaftlich und gesellschaftlich dazu imstande sind, eine digitale Infrastruktur aufzubauen, die auf eben diesen Werten basiert und uns die Geschichte von Vertrauen, Toleranz und Transparenz weitererzählen lässt, ist das mehr als eine historische Chance. Es ist eine historische Aufgabe. 

Bild © kynny | iStockphoto.com

Harald A. Summa
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