Homo Oeconomicus Digitalis, Teil I
Den Homo Oeconomicus hat es nie gegeben. Er war schon immer eine Erfindung oder, wohlwollender ausgedrückt, ein Denkmodell. Die Kritik an ihm ist vielschichtig und in großen Teilen berechtigt. Aber in einem zentralen Punkt ist sie nicht mehr zeitgemäß.
Der Homo Oeconomicus ist eine schlichte Persönlichkeit, denn im Wesentlichen verfügt er über lediglich zwei Charaktermerkmale. Erstens ist er stets auf seinen eigenen ökonomischen Vorteil bedacht. Zweitens – das ist seine deutlich bemerkenswertere Eigenschaft – verfügt er über erschöpfendes Wissen bezüglich des Markts. Über Preise und versteckte Kosten, Features und Bugs, Mitbewerber und Alternativen ist er bestens informiert. Der Homo Oeconomicus hat den Durchblick. Er weiß immer, wo er den besten Deal bekommt.
Kein sonderlich sympathischer Zeitgenosse also und so verwundert es nicht, dass der Homo Oeconomicus seit seiner Geburt unter Kritik steht. Die zielt meist darauf ab, dass es ihm an Menschlichkeit fehle. Bei echten Menschen gäben, anders als beim Homo Oeconomicus, nicht nur wirtschaftliche Überlegungen den Ausschlag. Und überhaupt: Sollte ein echter Mensch versuchen, dem zweifelhaften Vorbild des Homo Oeconomicus nachzueifern, müsste das schief gehen. Denn das echte menschliche Gehirn sei, anders als das des Homo Oeconomicus, faul und leicht hinters Licht zu führen.
Vor allem aber sei schon die Grundannahme falsch: Echte Menschen seien gar nicht in der Lage, alle im Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Transaktion relevanten Informationen zu kennen und zu sortieren. Damit sei das ganze Denkmodell schon im Ansatz falsch.
Die Welt, in der Homo Oeconomicus geboren wurde, gibt es nicht mehr
Zumindest der letzte Teil der Kritik ist inzwischen nicht mehr gültig. Die Welt von heute ist nicht mehr die Welt, in der der Homo Oeconomicus geboren wurde. Gerade bei der Beschaffung und Verarbeitung von Information hat sich viel verändert. Der Homo Oeconomicus ist jetzt ein Homo Oeconomicus Digitalis – und so langsam fängt er an, die neuen Möglichkeiten der digitalen Welt zu erkunden und für sich zu nutzen.
Dabei ist die Menge an Information, die der Homo Oeconomicus verarbeiten müsste, um die jeweils klügste wirtschaftliche Entscheidung zu treffen, nicht weniger geworden. Sie nimmt, wie alle wissen, die gelegentlich ihre Versicherungspolicen durchsehen und über einen Anbieterwechsel nachdenken, ziemlich schnell zu.
Damit erlangt eine Instanz neue Bedeutung, die wir von Kranken-, Renten-, Haftpflicht- und all den anderen Versicherungen schon länger kennen: die des Maklers oder Agenten. In den letzten Monaten waren es vor allem Fintechs, die in die Öffentlichkeit traten. „Banking is necessary, banks are not“ lautet ihr Motto und ihr Versprechen ist es, die wichtigste und – bislang zu Recht kritisierte – Existenzvoraussetzung des Homo Oeconomicus zu schaffen: Jederzeit alle für eine wirtschaftliche Transaktion relevanten Daten kennen und auf dieser Basis eine vernünftige Entscheidung treffen.
Der Unterschied zu früher ist also simpel. Wer sich heute am Homo Oeconomicus orientiert, erledigt die mühsame Arbeit des Informiertbleibens nicht mehr selbst, sondern holt sich eine App. Mit seiner Wiedergeburt in der digitalen Welt ist der Homo Oeconomicus auf einmal nicht mehr der angestaubte Sonderling, der schon etwas komisch riecht, sondern erstaunlich frech. Oder: disruptiv.
Das führt natürlich zu weiteren Fragen. Die beiden spannendsten davon lauten: Wie sieht es in diesen neuen Zeiten mit der Berücksichtigung nicht-ökonomischer Interessen aus? Und wie steht es in dieser neuen Beziehung zwischen Mensch und Dienstleister um das Vertrauen? Um diese Fragen geht es im nächsten Teil.
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